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Ludwig Bechstein: Märchen
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Des Märchens Geburt

ES WAR einmal eine Zeit, da es noch keine Märchen gab, und die war betrübend für die Kinder, denn es fehlte in ihrem Jugendparadiese der schönste Schmetterling. Und da waren auch zwei Königskinder, die spielten miteinander in dem prächtigen Garten ihres Vaters. Der Garten war voll herrlicher Blumen, seine Pfade waren mit bunten Steinen und Goldkies bestreut und glänzten wetteifernd mit dem Taugefunkel auf den Blumenbeeten. Es gab in dem Garten kühle Grotten mit plätschernden Quellen, hoch zum Himmel aufrauschende Fontänen, schöne Marmorbildsäulen, liebliche Ruhebänke. In den Wasserbecken schwammen Gold- und Silberfische; in goldenen großen Vogelhäusern flatterten die schönsten Vögel, und andere Vögel hüpften und flogen frei umher und sangen mit lieblichen Stimmen ihre Lieder. Die beiden Königskinder aber hatten und sahen das alle Tage, und so waren sie müde des Glanzes der Steine, des Duftes der Blumen, der Springbrunnen und der Fische, welche so stumm waren, und der Vögel, deren Lieder sie nicht verstanden. Die Kinder saßen still beisammen und waren traurig; sie hatten alles, was nur ein Kind sich wünschen mag: gute Eltern, die kostbarsten Spielsachen, die schönsten Kieider, wohlschmeckende Speisen und Getränke, und durften tagtäglich in dem schönen Garten spielen - sie waren traurig, obschon sie nicht wußten, warum, und nicht wußten, was ihnen fehle.

Da trat zu ihnen ihre Mutter, die Königin, eine schöne hohe Frau mit mildfreundlichen Zügen, und sie bekümmerte sich darüber, daß ihre Kinder so traurig waren und sie nur wehmütig anlächelten, statt mit Jauchzen ihr entgegen zu fliegen; sie betrübte sich, daß ihre Kinder nicht glücklich waren, wie doch Kinder sein sollen und sein können, weil sie noch keine Sorgen kennen und der Himmel der Jugend meist ein wolkenloser ist.

Die Königin setzte sich zu ihren beiden Kindern, die ein Knabe und ein Mädchen waren, und schlang um jedes derselben einen ihrer vollen weißen Arme, welche goldne Spangen schmückten, und fragte gar mütterlich und liebreich: "Was fehlt euch, meine lleben Kinder?"

"Wir wissen es nicht, teure Mutter!" sprach der Knabe. "Wir sind so taurig!" sprach das Mädchen.

"Es ist so schön hier in diesem Garten, und ihr habt alles, was euch Freude machen kann; macht es euch denn keine Freude?" fragte die Königin, und eine Träne trat in ihr Auge, aus dem eine Seele voll Güte lächelte.

"Nicht genug Freude macht uns, was wir haben", antwortete dieser Frage das Mädchen. "Wir wünschen uns was und wissen nicht, was!" setzte der Knabe hinzu.

Die Mutter schwieg bekümmert und sann nach, was wohl die Kinder wünschen möchten, das sie mehr erfreue als die Pracht des Gartens, der Schmuck der Kleider, die Menge der Spielsachen, der Genuß edler Speisen und Getränke, aber sie fand nicht, was ihre Gedanken suchten.

"O wäre ich nur selbst wieder ein Kind!" sprach die Königin still zu sich, mit einem leisen Seufzer, "dann fiele mir wohl bei, was Kinder froh macht. Um Kindeswünsche zu begreifen, muß man selbst ein Kind sein. Aber ich bin schon zu weit gewandert aus dem Jugendlande, wo die goldnen Vögel durch die Bäume des Paradieses fliegen, jene Vögel, die keine Füße haben, weil die Nimmermüden irdischer Ruhe nicht bedürfen. O käme doch ein solcher Vogel her und brächte meinen teuern Kindern, was sie glücklich macht!"

Siehe, wie die Königin also wünschte, da wiegte sich plötzlich über ihr in den blauen Lüften ein wunderherrlicher Vogel, von dem ein Glanz ausging, wie Goldflammen und Edelsteinblitze, der schwebte tiefer und tiefer, und es sah ihn die Königin, es sahen ihn die Kinder. Diese riefen nur: "Ah! ah!" und Staunen ließ sie keine anderen Worte finden.

Der Vogel war überaus herrlich anzusehen, wie er, immer tiefer schwebend, sich niedersenkte, so schimmernd, so glänzend, im Regenbogenfarbengefunkel, fast das Auge blendend und doch immer wieder das Auge fesselnd. Er war so schön, daß die Königin und die Kinder vor Freude leise schauerten, zumal sie jetzt das Wehen seiner Flügel fühlten. Und ehe sie es ahnten, so hatte sich der Wundervogel niedergelassen in den Schoß der Königin, der Mutter, und sah aus Augen, die wie freundliche Kinderaugen gestaltet waren, die Kinder an, und doch war etwas in diesen Augen, das die Kinder nicht begriffen, etwas Fremdartiges, Schauerhaftes, und sie wagten darum nicht, den Vogel zu berühren, auch sahen sie jetzt, daß der seltsame, überirdisch schöne Vogel unter seinen glänzendbunten Federn auch einige tiefschwarze Federn hatte, die man aber von weitem nicht gewahrte. Indes blieb den Kindern zu näherer Betrachtung des schönen Wundervogels kaum so lange Zeit, als nötig war, dies zu erwähnen, denn alsbald hob sich der Vogel wieder empor, der Paradiesvogel ohne Füße, schwebte, scnimmerte, flog immer höher, bis er nur eine im Äther schwimmende bunte Feder schien, dann nur noch ein goldener Streif, und dann entschwand - so lange aber, bis das geschah, sahen ihm auch die Königin und die Kinder mit Staunen nach. Aber O Wunder! Als Mutter und Kinder wieder niederblickten, wie staunten sie da aufs neue! Auf dem Schoße der Mutter lag ein goldnes Ei, das hatte der Vogel gelegt, O und das schimmerte auch so grüngolden und goldblau wie der köstlichste Labradorstein und die schönste Perlenmuschel der Meerestiefen. Und die Königskinder riefen aus einem Munde: "Ei, das schöne Ei!" Die Mutter aber lächelte selig und ahnete voll Dankgefühl, das müsse der Edelstein sein, der noch zum Glück ihrer Kinder fehle, das Ei müsse in seiner zauberfarbigschillernden Schale ein Gut enthalten, das den Kindern gewähre, was dem Alter versagt ist, Zufriedenheit, und das ihre Sehnsucht, ihre kindische Trauer stille.

Die Kinder aber konnten sich nicht satt sehen an dem prächtigen Ei und vergaßen bald über dem Ei den Vogel, der es brachte; erst wagten sie nicht, es zu berühren, endlich aber legte das Mägdlein doch eines seiner rosigen Fingerchen daran und rief plötzlich, indem sein unschuldvolles Gesichtchen sich mit Purpur übergoß: "Das Ei ist warm!" Nun tippte auch der Königsknabe vorsichtig und leise an das Ei, um zu fühlen, ob die Schwester wahr gesprochen. Endlich legte auch die Mutter ihre zarte weiße Hand auf das köstllche Ei, und siehe, was begab sich da? Die Schale fiel in zwei Hälften auseinander, und aus dem Ei kam ein Wesen hervor, wunderbar anzusehen. Es hatte Flügel und war nicht Vogel, nicht Schmetterling, Biene nicht und nicht Libelle, und doch von allen diesen etwas, aber nicht zu beschreiben; mit einem Wort, es war das buntgeflügelte, farbenschillernde Kinderglück, selbst ein Kind, nämlich des Wundervogels Phantasie, das Märchen. Und nun sah die Mutter ihre Kinder nicht mehr traurig, denn das Märchen blieb fortan immer bei den Kindern, und sie wurden seiner nicht müde, solange sie Kinder blieben, und seit sie das Märchen hatten, wurden ihnen Garten und Blumen, Lauben und Grotten, Wälder und Haine erst recht lieb, denn das Märchen belebte alles zur Lust der Kinder; das Märchen lieh selbst den Kindern seine Flügel, da flogen sie weit umher in der unermeßlichen Welt und waren doch immer gleich wieder daheim, sobald sie nur wollten. Jene Königskinder - das waren die Menschen in ihrem Jugendparadiese, und die Natur war ihre schöne mildfreundliche Mutter. Sie wünschte den Wundervogel Phantasie vom Himmel nieder, der so prächtige Goldfedern und auch einige tiefdunkle hat, und er legte in ihren Schoß das goldne Märchenei.

Und wie die Kinder das Märchen innig lieb gewannen, das ihre Kindheitstage verschönte, in tausenderlei Gestaltungen und Verwandlungen sie ergötzte und über alle Häuser und Hütten, über alle Schlösser und Paläste flog, so war des Märchens Art auch diese, daß es selbst den Erwachsenen gefiel und sie sich seiner freuten, wenn sie nur etwas aus dem Garten der Kindheit mit herübergetragen in das reifere Alter, nämlich die Kindlichkeit des Herzens.

Die beiden kugelrunden Müller

ES WAR einmal ein Müller, der war schon an sich sehr stark und dick, wollte aber auch fest sein gegen Hieb und Stich, gegen Bolz und Pfeil, darum steckte er sich in eine wunderliche Kleidung. Er ließ sich zuvörderst ein Wams machen, das fütterte er mit Kalk und Sand, und ließ, um das zu verbinden, geschmolznes Pech hineinfließen, hinten machte er ein Futter von mehreren Körben und vorn beblechte er es mit alten Reibeisen und eisernen Hafendeckeln, da wurde das Wams schwerer als der schwerste Brust- und Rückenharnisch, den jemals ein streithafter Ritter trug.

Darüber zog dieser Müller nun drei Hemden, und unter das Wams legte er einen wirklichen Panzer an, über die Hemden auch einen Panzer, und darüber zog er neun lodene Röcke, wie sie die Wollenweber im Schwabenlande noch heute fertigen. Wenn nun der Müller sich mit diesem stattlichen Kleiderbollwerk angetan, wobei er die Beine mit mehr als vier alten übereinander gezogenen Lederhosen verwahrt, so war er ein so stattliches kugelrundes Kerlchen, daß er eben so breit war als hoch, wie eine rechte Kugel sein muß, und konnte schier nicht ohne Gezwang durch ein Stadttor aus- und eingehen, konnte sich auch kaum rühren und regen, und mußte denn seine Freundschaft mit ihm gehen, ihn führen und geleiten. Da er nun alljährlich zu St. Oswalds Kirchtag ging und sich auch sehen lassen wollte vor den Leuten, so fuhr er einher auf einem Karren in seiner Rüstung und so gewappnet, wie jedermänniglich noch nie gesehen hatte. Den Wagen zogen vier starke Ochsen, und hinterdrein gingen alle Bauern seines Orts mit ihren Weibern und Kindern, die steckten sich, wenn sich ein Feind zeigte, hinter ihres Müllers Karren, wie hinter eine Feste und Schirmhut. Er war gewaffnet mit zween Spießen und einer Armbrust, an seiner Seite hing ein Schwert einer Mannslänge lang, ein Zweihander; und neben ihm lag noch ein Bogen nebst einem Pfeilköcher.

Wenn nun der kugelrunde Müller mit seinem Karren und seinen vier Ochsen an einen gewissen Berg kam, über welchen der Weg führte, so harreten seiner dort ein paar Neffen mit Weib und Kindern, die halfen den Wagen in die Höhe hinauf schieben, während vorn noch sechs Ochsen als Vorspann zogen, und so brachten sie ihn denn endlich hinauf mit Ach und Krach und Vergießung vieler Schweißtropfen. Ging es nun auf der andern Seite des Berges wieder abwärts, so mußte eingehemmt werden so viel als nur möglich, daß es nicht mit dem Kugelrunden kopfüber kopfunter ging. Wenn seine Sippschaft ihn nun endlich am Ziele hatte, so wurde er mit Leitern und Hebebäumen vom Wagen herabgeschrotet, wie ein großes volles Weinfaß, und dann scharten sie sich um ihn her und zumeist hinter ihm wie die Philister hinter ihrem Goliath.

Dabei war der runde Mehlsack von großer Stärke und Unerschrockenheit, und es ging von ihm die Rede, daß er einst in einem Schimpfspiel, wo ein Kämpfer einen Apfel, der andre eine Birne an der Spitze seiner Klinge geführt, und sich ein großer Lärm erhob, dermaßen in den Haufen mitten hinein geschlagen, wie ein Hagelschauer in das Getreide, so daß er vielen Bauern viel Leids gebracht. Aber da war ihm ein Gegner entgegengetreten, stark und kräftig, der führte einen Hauptstreich nach dem Müller, daß seine Blechhaube gleich zu Boden fiel, und meinten alle, die das sahen, der Kopf wäre mit vom Rumpfe geflogen; der kugelrunde Kämpe hatte aber, wie sein Gegner ausholte, seinen Kopf aus der Haube schnell heraus unter die hohe Halsberge gezogen, und jetzt tat er einen Streich nach dem Gegner, der ihm so tief in den Hals schnitt, wie die Sense des Mähers in das Gras. Da fürchteten sich alle vor dem gewaltigen Mann, dem die Taten, die man von Recken las, nur ein Spaß schienen.

Nun war aber ein andrer Müller in der Nachbarschaft, der war ebenso stark und groß, ebenso kugelnrund und trug auch so ein wohlausgefüttertes und geblechtes Wams, und keiner mochte den andern leiden, weil keiner dem andern nachstand. Und haßten und bekriegten einander schon zehn Jahre. Auf jedem Kirchweihtag, wo sie hinkamen, gerieten sie aneinander, und fochten gegeneinander mit Worten und Waffen; es konnte aber ihrer keiner dem andern etwas anhaben, und beide waren zwei gar sehr gefürchtete Kampfhelden. Der eine Müller hatte einen Sohn, der andre eine Tochter, welche beide einander so sehr liebten, als die Väter einander haßten, darüber wurde der Zwiespalt noch größer, bis endlich gute und einsichtsvolle Freunde sich ins Mittel schlugen und beiden Müllern rieten, gute Freunde zu werden und ihre Kinder miteinander zu verheiraten.

Wie das Gerücht vom Bündnis der beiden Müller ins Land erscholl, und daß sie sogar ihre Kinder miteinander verheiraten wollten, da erhob sich große Unruhe und Besorgnis, denn jedermänniglich konnte sich nun an den Fingern abzählen, daß die beiden Kugelrunden sein würden wie zwei Mühlsteine, zwischen denen alles, was ihnen zu nahe käme, würde aufgerieben werden. Und wer jetzt dem einen Müller zu nahe trat, der hatte es gleich mit beiden zu tun, und konnte kein Fürst beide Wämser überwinden, denn die Müller glichen runden Burgen, waren auch nicht auszuhungern durch eine Belagerung, denn sie hatten auch in ihren Wämsern manche Metze gefaßt, von der sie zehren konnten lange Zeit. Da aber nun die beiden unüberwindlichen Helden also mannhaft waren, daß selbst der Kaiser große Mühe gehabt haben würde, sie zu überwältigen, so mußte man nur froh sein, daß sie ihre große Macht gegen die Feinde des Reiches kehrten, und begehrten gar keinen Sold und Lohn, sondern nur die Ehre, fechten und streiten zu dürfen. Und war das nur ihre einzige Klage, daß so mancher Tag verging, an dem sie keines Gegners ansichtig wurden, weil ihr Ruf so weit und breit genannt war, daß sich alles vor ihnen fürchtete.

Viele tapfre Taten vollführten die beiden kugelrunden Müller, seit sie miteinander verbunden waren, und wenn man diese Taten und die Abenteuer, die durch sie bestanden wurden, niedergeschrieben hätte, so wäre das ein Buch geworden, zweimal so stark wie die Bibel und die Weltchronik. Auch taten sie mehr Wundertaten als alle die Recken, von denen die alten Lieder und Geschichten sagen. Endlich schlugen sie ihre Wohnung in einer Wüste hinten an der Welt Ende auf, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.

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Ludwig Bechstein Märchen, Literatur  

Bechstein, Ludwig. Sämtliche Märchen. Düsseldorf: Patmos/Albatross Verlag, 1999.

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