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Deutsches Sagenbuch
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  1. Der fliegende Holländer
  2. Sankt Remaclus Fuß zu Spa
  3. Die schlafenden Kinder
  4. Roß Bayard und Schloß Bayard
  5. Die Toten in Löwen
  6. Der Schwanritter
  7. Gelre, Gelre!
  8. Des Riesen Handwerfen
  9. Herr Lem
  10. Gangolfs Brunnen

130. Der fliegende Holländer

Im Lande Limburg liegt ein altes Schloß, das ist Falkenberg genannt, darin es spukt und umgeht. Eine Stimme ruft gegen die vier Wände den Klageruf: Mörder! Mörder! – Zwei kleine Flämmchen flackern vor der Stimme her, aber den Rufer sieht keiner. Und das ist also seit sechshundert Jahren. Damals, vor so langer Zeit, stand das Schloß noch in seinem Glanze, zwei Brüder von Falkenberg wohnten darin, die hießen Waleram und Reginald und liebten beide die schöne Tochter eines Grafen von Cleve, Alix. Waleram war der Glückliche, den die Jungfrau erkor, und feierte mit ihr glänzende Hochzeit. Dem verschmähten Reginald aber wandte der Rachegeist das Herz im Busen, und er ging und ermordete die Liebenden in ihrem Brautbette. Im Todeskampfe griff Waleram in des Bruders Mordwaffe, schlug ihm die blutende Hand ins Gesicht und sank dann tot zurück. Der Mörder schnitt vom Haupt der von ihm erdolchten Braut eine Locke und entwich, war auch nimmer zu finden, als man die Toten fand und bejammerte und den Mörder ahnete. Es lebte dazumal nicht allzuweit vom Schlosse Falkenberg ein frommer Einsiedel, dessen Klause neben einer kleinen Kapelle stand. Bei dem klopfte es an um Mitternacht und begehrte Einlaß im Namen des Himmels. Reginald war's, den die Reue marterte, und auf dessen Gesicht die Spur einer blutigen Hand unaustilgbar sichtbar war, ein Wahrzeichen, was kein Wasser abwusch. Reginald beichtete dem Einsiedel seine schwere Schuld, und der hieß ihn mit ihm gehen, und führte ihn in die Kapelle, und kniete mit ihm am Altare, und betete mit ihm die ganze Nacht. Am andern Morgen gebot der Einsiedel dem Grafen Reginald von Falkenberg: Wandelt als büßender Pilger gen Norden und immer gen Norden, bis Ihr keine Erde mehr unter den Füßen habt, dann wird Gott Euch durch ein Zeichen offenbaren, was Ihr weiter beginnen sollt. Da sprach Reginald kein anderes Wort als Amen und verbrannte an der ewigen Ampel des Altars Alixens Locke und ging von dannen, gen Norden und immer gen Norden, und büßte und betete. Und da sind zwei Gestalten mit ihm gegangen, eine weiße zu seiner Rechten und eine schwarze zu seiner Linken; die zur Rechten bestärkte ihn im Büßen und Beten, die zur Linken aber flüsterte ihm zu, davon abzulassen und den Freuden der Welt zu leben, und so kämpften sie um seine Seele, und dieser Kampf, den er im Herzen fühlte und mitkämpfte, war seine Buße. So ging er Tage lang, und Wochen lang, und Monden lang, bis er am Meere stand und kein Erdreich mehr vor sich sah, darauf er seinen Fuß hätte setzen können. Aber da fuhr ein Nachen heran, da saß einer drin, der winkte Reginald und sprach:Exspectamus te! Und das war das Zeichen, und Reginald stieg in den Kahn, und die zwei Gestalten mit ihm. Und der Mann im Nachen stieß ab und fuhr nach einem großen Schiffe hin, das im Meere lag und alle Segel aufgespannt hatte und alle Flaggen aufgezogen. Da stiegen die drei an Bord, und der Mann samt dem Nachen verschwand, und das Schiff segelte durch das Meer. Reginald aber ging unter das Verdeck des Schiffes, das ganz menschenleer war und ohne alle Bemannung; da stand eine Tafel und Stühle, und die drei setzten sich, und die schwarze Gestalt legte drei beinerne Würfel auf den Tisch und sprach: Jetzt wollen wir um deine Seele würfeln bis zum Jüngsten Tag.

Und das tun sie noch heute, ohne Ruder und ohne Steuer fährt das Schiff durch den Ozean im Norden, zur Nacht webern Flammen auf seinen Masten und tanzen auf den Rahen. Seine Segel sind grau wie Erde, und seine Flaggen sind fahl wie abgebleichte Bänder an Totenkränzen. Sein Bord ist leer, und am Steuer steht kein Steuermann. Sein Gang ist Flug, und sein Begegnen ist Fluch, Unheil verheißend dem Fahrzeug, dem es begegnet. Mancher Schiffer hat es schon gesehen, und es hat ihm Grausen erregt. Selbst bei Windstille fliegt es wie ein Pfeil über die Meeresglätte. Und sie nennen es den fliegenden Holländer.

131. Sankt Remaclus Fuß zu Spaa

In dem quellenreichen Spaa, darinnen mehr denn hundert Gesundbrunnen ihre Heilwasser ausströmen, ist eine Quelle, die heißt Groesbeeck, die ist ein Jungbrunnen und Frauenbad, absonderlich heilsam und kräftigend. Nahe dabei ist das Zeichen eines Fußes tief in den Boden eingetreten. Einstens kam der heilige Remaclus, welcher im Lütticher Lande wohnte, zu dieser Quelle und verrichtete allda seine Andacht. Der heilige Mann mochte aber ermüdet sein, oder sich allzutief in sein Gebet versenken, er schlief ein über dem Gebet. Solches hat den lieben Gott in etwas verdrossen, und er schuf, daß einer der Füße des heiligen Mannes tief in die Erde sank, und das Wahrzeichen blieb, da´es nimmermehr wieder ausgefüllt werden konnte. Der heilige Remaclus aber fühlte tiefe Reue über sein Vergehen und legte sich die strengste Buße auf, dieß sahe Gott mit Wohlgefallen an, und schuf der Fußtapfe eine wunderwirkende Kraaft. Frauen, welche Nachkommenschaft entbehren und Nachkommenschaft wünschen, halten in der Kirche des heiligen Remaclus zu Spaa eine neuntägige Andacht, und trinken an jedem dieser Tage aus dem Brunnen Groesbeeck ein Glas Wasser, indem sie den einen Fuß in die Fußtapfe des heiligen Remaclus setzen. Vielen hat dort ihr Glaube geholfen.

132. Die schlafenden Kinder

Im Lütticher Lande, zu Stockum, lebte ein armes Weiblein, eine Wittib mit drei Kindern, kümmerlich, denn es war teure Zeit, und sie mußte betteln gehen und konnte doch nichts erbitten und erbeten. Da kam sie voll Jammer zu ihren drei Kindlein daheim und sagte: Weh uns Armen! Die Herzen der Menschen sind hart, und Gott hat ihr Ohr verschlossen. Lasset uns mitsammen sterben, das ist das Beste für uns viere, da hungern wir nicht mehr! – Da die Kinder diese Worte vernahmen, begannen sie zu weinen, und eines derselben sprach: Ach, liebe Mutter, du wirst doch dich und uns nicht schlachten wollen – denn die Alte hielt schon das scharfe Messer in der Hand – laß uns doch lieber schlafen bis zum Herbst, da gibt es wieder Korn und Obst, da lesen wir wieder Ähren mit dir und können leben. Da fiel der Mutter das Messer aus der Hand, und den Kindern allen dreien fielen die Augen zu, und entschliefen, und schliefen und schlummerten in einem fort, durch den Winter und Frühling und Sommer, und wachten nie nicht auf. Viele Menschen kamen herbei aus Lüttich und aus Brabant und sahen mit Verwunderung die immer schlafenden Kinder, und alle schenkten der armen Frau etwas, und davon wurde die arme Frau sehr reich. Und als der Monat August kam, da die Sicheln der Ährenschnitter im Felde klangen, da wachten die Kinder allzumal auf und hatten einmal recht ausgeschlafen, lobten Gott und den frommen Heiland mit ihrer Mutter und litten nie wieder Mangel.

133. Roß Bayard und Schloß Bayard

Die vier Haimonskinder ritten zumal auf einem großen überstarken Rosse, des Name war Bayard. Viele Wahrzeichen gibt es noch von ihm im Lütticher Lande und der Gegend dort herum. Nahe bei Lüttich ist ein Felsen, der zeigt eine kahle glatte Stelle, darauf ist ein Rosseshuf eingetreten, der rührt vom Bayard her. Als das Roß auf Kaiser Karls Befehl von den vier Haimonskindern zur Sühne dargebracht wurde, ließ es der harte Kaiser von der Brücke zu Paris in die Seine werfen, nachdem es mit Stricken gebunden war, aber mit seiner Kraft zersprengte es die Stricke und kam wieder hervor aus dem Wasser und lief zu seinem Herrn und leckte ihm die Hand. Da ließ der Kaiser das Roß mit Steinen belasten und abermals in den Strom stürzen, und wiederum kam es hervor und hatte die Steine von sich geschüttelt und lief zu seinem Herrn und stand – und zitterte. Aber der Kaiser fand seines Zornes gegen das Roß kein Ende und gebot, es solle am Hals und an den Füßen mit Mühlsteinen belastet und zum dritten Male in die Flut geworfen werden. Als das kluge Roß Bayard dieses grausame Wort vernahm, erschrak es und entfloh ins Weite – aber der Kaiser gebot Reinhold von Dordone, dem jüngsten, aber stärksten Sohne Haimons, des Rosses Herrn, dem es willig wie ein Kind diente und gehorchte, daß er gehe und den Bayard fange. Da ging Reinhold – schwerer am Kummer auf seinem Herzen tragend, als das Roß an Steinen getragen hatte – und fing den Bayard und brachte ihn geführt, und so wurde das treue Roß zum dritten Male in die Flut gestoßen, so schwer belastet, daß es sich nicht wieder ihr entringen konnte. Es hob nur noch ein einziges Mal den Kopf in die Höhe und blickte auf Reinhold, seinen Herrn, hin, dann versank es. Da tät sich Reinhold aller ritterlichen Gewaffen ab, wanderte als Büßer von hinnen, kam nach Köln, der heiligen Stadt, und arbeitete allda unter den Maurern um kargen Lohn am Dombau, bis neidische Mitgesellen ihn durch einen Steinwurf töteten, den sie von einer Höhe niederwarfen.

Das Roß Bayard aber blieb unvergessen, vielfach blieb sein Name in Ehren, ja es geht auch die Sage, daß es sich an ferner Stelle dennoch wieder aus dem Strom gerettet und in den Ardennerwald sich geborgen habe, wo es noch immer bisweilen sich sichtbar zeige. Bei Dinant ist ein vielfach zerklüfteter Fels, der heißt der Bayardsfelsen, und ohnweit Charleroi, oberhalb dem Dorfe Couillet, wird auch ein Bayardstritt im Stein gezeigt. Dem Rosse zu Ehren hatten die vier Haimonskinder ein Schloß Bayard genannt, das steht zu Dhuy in der Grafschaft Namur, dort haben sie öfter gewohnt, sowie auch auf dem Schlosse Reinoldstein in der Provinz Lüttich, wo nahe dabei Schloß Poulseur gelegen war, darauf Malagys, der Vetter der vier Haimonskinder, ein mächtiger und listiger Zauberer, wohnte, wie auch im Schloß Amblème, das noch nach ihnen heißt, und in Eggernwalde. Auch liegt ein Dorf, Berthem, im belgischen Lande, das hat das Roß Bayard zum Wappen. Auch zeigte man allda des Rosses große Krippe und nahe bei Berthem, im Walde Meerdael, auch einen Bayardhuftritt. Als Reinhold von Dordone von seinen Brüdern geschieden war, entsagte auch sein ältester Bruder Adelard der Welt, begabte die Abtei Corvey mit der Oberherrlichkeit von Berthem und trat als Mönch in jenes Stift, verstarb auch alldort eines seligen Todes. Über dem Hochaltare der Kirche zu Berthem fand sich vordem ein Gemälde aufgestellt, darauf sahe man Adelard und seine Brüder samt dem Rosse Bayard vor einem Kreuze knieen.

134. Die Toten in Löwen

Zu Löwen war ein Totengräber, der sollte ein Grab bereiten, fühlte sich aber krank, zumal war es am Abend Allerheiligen (Vorabend Aller Seelen) und schon recht kalt, und da bot sich, wie er klagte, sein Gevatter an, das Grab für ihn zu machen, was aber zu Nacht noch geschehen mußte. Vor Mitternacht war der Mann mit seiner Arbeit fertig und wollte vom Kirchhof hinweggehen, da sah er eine Prozession auf diesen gezogen kommen, die schritt über alle Gräber; es schienen weiße Mönche zu sein, und jeder trug eine Kerze, und wie sie an den Gevatter kamen, der ein Spielmann war, ließen alle ihre Kerzen vor ihm hinfallen, der letzte Mönch aber warf eine große Kugel vor ihm hin, mit zwei Dochten. – Ei, dachte der unerschrockene Spielmann, das ist schön weiß gebleichtes Wachs und ein guter Lohn für meine Mühe; sammelte daher alles sorglich auf, band es in sein Tuch und barg es daheim unters Bette, schlief auch ganz ruhig in dieser Nacht.

Andern Tages aber, als der Spielmann sich früher niedergelegt hatte, konnte er nicht einschlafen, sondern wachte die Mitternachtstunde heran; siehe, da tat seine Kammertüre sich auf, und es kamen alle die weißen Mönche herein und stellten sich um die Betten her, in denen der Spielmann und seine Frau lagen, und bückten sich und schauten unter des Spielmanns Bette und zogen das Tuch mit den vermeinten Kerzen hervor, und über dem Bücken entfielen den Mönchen ihre weißen Kapuzen und Mäntel, und waren eitel scheußliche Gerippe, und schrieen: Mein Arm! Mein Bein! Mein Kreuz! Meine Rippe! Und meine Rippe! Und mein Kopf! schrie das letzte Gerippe, das hatte in der Tat keinen Kopf, und alle den andern Gerippen fehlte das, wonach sie riefen, und das alles hatte der Spielmann in seinem Tuche zusammengebunden und in der Meinung, es seien Wachskerzen und eine Wachskugel, nach Hause getragen. Nun langten alle mit ihren klapperdürren Armen nach ihren Gliedmaßen, und das Gerippe ohne Kopf bückte sich, und der Spielmann mußte ihm den Kopf selbst auf- und zurechtsetzen, dann langte es nach des Spielmanns Geige, drückte sie ihm in die Hände und machte das Zeichen, daß er aufspielen sollte, und nun faßten sich alle die Gerippe mit den dürren Fingern an und tanzten nach dem Spiel und klapperten, und der Spielmann klapperte auch nebst seiner Frau, und jene kreisten wild in der Kammer herum, war gar ein schauriger Totentanz und dauerte eine ewig lange Zeit, und wenn der Spielmann müde wurde, so langte ihm ein Gerippe eine Maulschelle in das Gesicht, die sehr weh tat. Endlich beim ersten Hahnschrei hüllten die Gerippe sich wieder in ihre Mäntel und huschten von hinnen.

Der Spielmann und seine Frau haben von Stund an, als sie dies Schreckliche erlebt, nicht mehr geredet, nur daß sie in der Beichte erzählten, was sie gesehen, und dann sind sie bald darauf mitsammen gestorben.

Besser als diesem Spielmann ist es einem frommen Bötticher zu Löwen ergangen. Der ging allabends, da er nahe an Sankt Quintini Kirchhof wohnte, auf diesen Kirchhof und betete für die Ruhe der Toten einen Rosenkranz oder zwei. Da geschah es, daß er eine Summe Geldes für abgelieferte Arbeit einnahm, das er zu sich steckte, da er gerade auf den Kirchhof gehen wollte, seiner Gewohnheit noch für die Ruhe der Toten zu beten. Es waren aber einige Spitzbuben in der Nähe, die wußten, daß der Bötticher Geld einnehmen sollte, und dachten gleich, er werde es zu sich stecken, die lauerten auf ihn, und da er auf den Kirchhof kam, fielen sie über ihn her und wollten ihn niederwerfen. Aber da rauschte und brauste, rasselte und prasselte es ringsumher, und es erhoben sich alle Toten, für deren Ruhe der Büttner so oft gebetet hatte, und schlugen mit Arm- und Beinknochen härtiglich auf die Räuber los, daß denen ein Grauen ankam und sie teils niederstürzten, teils eilends entflohen. So war der fromme Meister befreit und gerettet und hat nachher um so eifriger für die Ruhe der Toten gebetet. Der Magistrat aber ließ die Geschichte auf eine Tafel malen und diese an der äußern Kirchenmauer aufhängen, allwo sie noch zu sehen ist.

Diese Sage geht auch mit weniger Veränderung in Deutschland von einem Ritter, Torringer geheißen, der, wenn er nachts am Kirchhof vorüberritt, nie unterließ, ein Gebet für die Toten zu sprechen. Eines Abends jagte er aber, von einer ganzen Schar wütender Feinde verfolgt, welche dicht hinter ihm waren, vorüber nach seiner Feste zu. Siehe, da erhoben sich die Toten rasch aus ihren Gräbern und traten zwischen den Fliehenden und seine Verfolger, die voll Entsetzen zurückprallten, wie sie die Schädel und Gerippe im Mondenscheine dastehen sahen und ihnen den Weg sperrten, und unbeschadet konnte der Ritter seine sichere Feste erreichen.

135. Der Schwanritter

Da Herzog Gottfried von Brabant zum Sterben kam und hatte keinen Sohn, so wollte er sein Land und Erbe seiner Gemahlin und seiner Tochter überlassen. Aber Gottfrieds Bruder, der Sachsenherzog, wollte darein nicht willigen und sagte, das Land sei kein Weiberlehen und Erbe, und nahm Brabant für sich. Da ward die Herzogin klagend bei König Karl, und der lud sie und auch ihren Schwager gen Neumagen (Nimwegen, Nijmegen) am linken Arm des Rheinstroms, die Wal geheißen, und da kam sie mit ihrer Tochter hin, und auch ihr Gegner. Und da geschah es, daß Karolus durch ein Fenster hinausschaute und hinab auf den Strom, da sah er einen Schwan schwimmen, der hatte ein silbern Halsband um und zog mit diesem an silberner Kette einen Nachen nach sich, und in dem Nachen lag ein Ritter im gleißenden Harnisch, auf seinem Schilde ruhte sein Haupt, seinen Helm und Halsberge hatte er abgetan und neben sich gelegt, und der Schwan ruderte an das Ufer heran. Alle Hofleute, die das samt dem Kaiser sahen, verwunderten sich hoch, vergaßen den Rechtshandel und eilten nach dem Ufer hinunter. Der ritterliche Jüngling im Nachen aber erwachte, tat sein Gewaffen wieder an, erhob den Schild, darauf acht Szepterlein um einen weißen Karfunkel gestellt waren, und stieg aus der Barke, zu dem Schwane sprechend: Fliege deinen Weg wohl hin, lieber Schwan, so ich deiner bedarf, will ich dir rufen! Da wandte sich der Schwan und ruderte im Wasser und entschwand samt dem Nachen den Augen der ihm Nachblickenden. Alles blickte ganz verwunderungsvoll nach dem Gast, dem Karol selbst die Hand bot und ihn nach der Burg geleitete, dann setzte er sich auf den Richterstuhl und hieß den Fremdling bei den Fürsten und Herren eine Stelle einnehmen. Es erhub nun die Herzogin ihre Klagen, und ihr Schwager brachte seine Gegenrede vor und sprach, daß er bereit sei, für sein Recht zu kämpfen, sie solle ihm nur einen Kämpen stellen, der mit ihm für ihr und ihrer Tochter vermeintes Recht stritte. Der Sachsenherzog war aber gar ein mannlicher Held und dem Besten im Kampfe überlegen, darum erbebte die Herzogin, denn sie wußte keinen Kämpen in ihrer Sippschaft, den sie wagen konnte aufzufordern, sich jenem gegenüberzustellen. Da weinte sie im bittern Schmerz, und ihre Tochter weinte mit ihr, und es war ihr weh im Herzen. Siehe, da erhob sich der junge Ritter, so mit dem Schwan gekommen war, von seinem Stuhl, neigte sich gegen den Kaiser und sprach: So du es mir vergönnest, großer Kaiser, so will ich wohl dieser Frauen Kämpe sein. Das wurde ihm gewährt, und er stritt darauf einen schweren Streit mit dem Sachsenherzog, doch obsiegte er ihm endlich und machte so der Herzogin und ihrer Tochter Erbe frei und ledig. Die danketen ihm in Züchten, und die Herzogin bot ihm jeden Kampfeslohn, den sie gewähren könne, und wär' es selbst ihrer Tochter Hand und einstiges Erbe. Da sagte der Jüngling, Werteres könne ihm nimmer geboten werden; sein Name sei Helias, das und mehr könne er von sich nicht sagen, und müsse er unerläßlich bedingen, daß seine Braut und Vermählte nie und nimmermehr ihn frage, wo er hergekommen, welches sein Geschlecht sei, wer ihm Vater und Mutter wäre, und solcher Fragen mehr, denn sowie sie solche Frage auch nur die leiseste und nur ein einziges Mal an ihn richte, müsse sie auf immer ihn verlieren.

Diese Bedingnis deuchte der Prinzessin von Brabant gar leicht zu halten; sie gelobte ihm das und vermählte sich dem Schwanenritter Helias. Sie zogen nach Cleve, der uralten Stadt, wo schon Julius Cäsar eine Burg erbaut, erneueten das Schloß und nannten es die Schwanenburg und freuten sich des Lebens und der Landschaft, die schon manche mit den elyseischen Feldern der alten Mythe ob ihrer Anmut verglichen. Beide gewannen auch zwei blühende Kinder und waren sehr glücklich, wären es auch geblieben, wenn nicht der Weiber Erbsünde, die schlimme Neugier, die junge Herzogin gequält und immer mehr gequält hätte. Die mochte gar zu gerne wissen, wer denn eigentlich ihrer Kinder Vater sei, und so drückte es ihr fast das Herz ab, bis sie endlich die Frage tat, die ihr doch so ernst verboten war. Da sprach Helias: Nun hast du dein Glück zerbrochen und mein Glück und hast mich am längsten gesehen. – Und waffnete sich und winkte zum Fenster hinaus – da kam schon der Schwan geschwommen mit seinem Schifflein. Und der Herzog küßte seine Kinder und drückte seiner Gemahlin stumm und schmerzlich die Hand – die weinte überlaut und stürzte ihm voll Reue zu Füßen und wollte ihn zurückhalten, und auch alles Volk flehte ihn an, daß er bleiben sollte. Aber Helias konnte nicht bleiben – er segnete alle, bestieg seinen Kahn und fuhr von dannen. Tief drang der Kummer ins Gemüt der Herzogin, doch erzog sie die Kinder zu tüchtigen Rittern, und ihnen entstammten alle spätern Grafen und Herzoge von Cleve und Geldern und Reineck, die führten meist den Schwan im Wappen. Des Landes Heerschild aber blieb der weiße Stein im roten Felde, um den die acht goldnen Szepterstäbe gestellt sind, bis auf diesen Tag. Auf dem Schwanenturme der Schwanenburg aber zeugt noch ein weißer Schwan, der sich im Winde dreht, von dieser Geschichte.

136. Gelre, Gelre!

Im weiten offnen Lande zwischen dem Rheinstrom und der Maas hauste zu Kaiser Karl des Kahlen Zeiten ein untümlicher Drache, der zehrte Menschen und Tiere auf, und wenn er Hunger hatte, so schrie er mit lauter gellender Stimme immerfort: Gelre, Gelre! Die Menschen wichen aus der Gegend hinweg, die doch schön und fruchtbar war, denn das Untier war unüberwindlich. Nun saß in der Nähe ein Edler, Otto, Herr von Pont, der hatte drei Söhne, deren Ältester hieß Leupold, und dieser Leupold war ein tapferer junger Degen und hatte Mut, dem Ungetüm zu Leibe zu gehen. Er wappnete sich auf das beste und erkundete den Ort, wo der Drache hause. Da ward ihm ein alter Birnbaum gewiesen, der voller Mistelpflanzen stand, und da dauerte es nicht lange, so hörte Herr Leupold den Drachen schon schreien: Gelre, Gelre! – Harre nur, dachte der junge Degen, ich will dich schon begelren, und rückte auf den Drachen zu. Dieser funkelte ihn mit feurigen Augen an, die wie Sterne blitzten, und sperrte seinen Rachen greulich auf und blies giftigen Atem daraus hervor, aber Herr Leupold stieß ihm seine Lanze hinein, daß am Hinterkopfe die Spitze wieder hervordrang, und stach ihn mit dem Schwerte in die Weichen und tötete ihn. Voll Dankes priesen die Bewohner der Gegend des jungen Ritters Heldentat und ernannten ihn zu ihrem Oberherrn. Er erbaute sich darauf da, wo er den Drachen überwunden, ein Schloß und nannte das nach dem Drachenschrei Gelre. Daraus ist der Name Geldern entstanden, den die blühende Provinz noch heute führt.

137. Des Riesen Handwerfen

Am Scheldefluß hauste zu Julius Cäsars Zeiten ein Riese auf einem hohen Turme, soll Antigonus geheißen haben, der bewachte das Land und nahm allen, welche dort vorüberreisten oder über das Wasser setzen wollten, die Hälfte ihrer Güter als Zoll ab. Wollten sie den nicht entrichten, so mußten sie mit ihm kämpfen, und dann hieb er dem Besiegten jedesmal die rechte Hand ab und warf sie in die Schelde. Da kam ein Mann, der hieß Brabon, mit mehrern andern Gefährten an die Stelle der Überfahrt, und fanden allda den Knecht des Riesen auf der Wacht, der wehrte ihnen den Übergang; sie sollten erst mit dem Riesen, seinem Herrn, das Ihre teilen, oder sie müßten ihre rechte Hand lassen. Dazu war Brabon nicht geneigt, weder zum einen noch zum andern; darauf schlug der Knecht an eine Eisenstange, die gab tiefen Glockenschall, und da kam der Riese trutziglich vom Turme herunter und fragte: Wer ist es, der mit mir kämpfen will? – Ich allein! erwiderte Brabon, und alsbald begann der Kampf. Da fiel manch harter Kampf und schwerer Streich. Der Riese war ein starker Wigand, und wohin er schlug, wuchs kein Gras mehr. Endlich aber obsiegte ihm dennoch der mannhafte Held Brabon und schlug ihm erst die rechte Hand, hernach auch den Kopf ab, und nahm die Hand und warf sie über den breiten Strom und rief: So weit ich diese Hand werfe, so weit soll auch dieser Strom zu dem Lande gehören, das ich mir jetzt erkämpft! – Und ging, und dankte für seinen Sieg dem Kriegsgotte Mars, und brachte ihm Opfer in seinem Tempel. Und die Hand fiel in des Stromes Mitte, und das Land ward nach dem Helden Brabant geheißen, und die Hälfte der Schelde gehörte fortan zu Brabant.

Da nun Julius Cäsar aus Britannien zurückkehrte, kam Brabon zu ihm und erzählte ihm sein Abenteuer mit dem Riesen Antigonus, den er im Ried an der Schelde erschlagen. Da lobte ihn der große Feldherr, und zog mit ihm nach dem Ort, und ließ dort eine Burg erbauen, und weihte sie und gab ihr und dem Lande große Rechte und Freiheiten, und machte Brabon zu einem Markgrafen des römischen Reiches. Der Ort aber ward von dem Handwerfen Handwerpen genannt und wuchs und ward groß und mächtig und ist jetzt die Stadt Antwerpen.

Damals hat Julius Cäsar Turnhout gegründet und mit großen Freiheiten begabt, und nahe bei Löwen das Kaiserschloß gebaut. Da er mit dem Helden Brabon dort auf die Jagd ging, schoß er einen mächtig großen Adler und nahm das für ein glückverkündendes Orakel der Götter an. Darum gründete er an jenem Ort eine neue Kolonie und nannte sie Aarschuß, das heutige Aerschot.

138. Herr Lem

Überhaupt gab es in frühen Zeiten in den niedern Landen gegen das Meer hin gar viele und gewaltige Riesen und Heunen, die waren aus Britannien gekommen, von der großen weißen Kreideinsel Albionien, das nach dem Trojaner Britus seinen spätern Namen Britannien empfing. Solch ein Riese saß da, wo jetzt Leiden liegt, der hieß Lem, und bekam einen Sohn, der hieß auch Lem, und später gründete er eine Stadt, da wurde er Herr Lem genannt, weil er darinnen als ein Herr gebot, und die wurde nach ihm genannt, das ist Harlem. Im Harlemer Walde stand ein Bacchustempel, und der ganze Wald war diesem Gotte heilig. Von ihm wird noch ein Kanalgraben bei Harlem Bakenessergracht genannt, und wo der alte Bacchustempel stand, steht jetzt die Bakenesserkerk. Des Riesen Herr Lem Frau hieß Walberech und soll ein abscheulich großes und starkes Mensch gewesen sein. Wenn sie von Holland nach England wollte, tat sie nur einen Schritt. Sie hatte große Pferde und Rinderherden, die weideten am Ufer der Nordsee, da kam ein Schiff mit Räubern gefahren, die landeten an und nahmen das Vieh von der Weide und beluden ihr Schiff damit, das nicht klein war. Als Walberech kam, nach ihren Herden zu sehen, waren diese fort, und fern auf der See schwamm das Schiff, wo die Herden darin waren. Da trat Walberech in das Wasser, langte hin, nahm ihre Herde wieder, hing die Ochsen und Kühe auf die eine Seite, die Pferde auf die andere, und die Schafe setzte sie auf ihren Kopf, die krochen darauf herum wie die Schafläuse auf einem Schafkopf. Das Schiff aber nahm Walberech, hob es hoch und schleuderte es dann mit Gewalt in das Wasser bis zum Grunde. Die Räuber fraß Walberech und trank ihr warmes Blut und ging dann wieder nach Hause.

139. Gangolfs Brunnen

Im Lande Languedoc war ein Graf, Gangolf mit Namen, der zog gegen die Sarazenen und Vandalen und kam in Welschland auf ein Blachfeld, wo ein klarer Brunnen sprang. Dort ließ er sich nieder, und ließ Gezelte schlagen, und trank mit all seinen Wappnern aus dem Brunnen, und ließ auch die Tiere tränken. Da kam des Feldes Eigentümer daher und schalt und sagte, das sei nicht des Landes Gewohnheit und Sitte, den Leuten das Gras zu vertreten, und sich ungefragt niederzulassen, und Menschen und Vieh aus fremden Brunnen zu tränken. Darauf sprach Gangolf sanftmütig und freundlich also: Es tut mir leid, mein guter Herr, daß es geschehen, doch zürnet nicht allzusehr, wenn es Euch genehm, so kaufe ich Euch den Brunnen ab. – Das, meinte jener Mann, sei ein Wort, das sich hören ließe, und lachte in seinem Herzen als ein Schalk, indem er meinte, den Brunnen möge der Fremde immerhin kaufen, wenn nur der Platz sein bliebe, auf dem er quelle. Und heischte des Geldes nicht allzuviel, und Gangolf zahlte es und hob sich hinweg mit den Seinen, nachdem er seinen Stab in den Quell eine Weile gestellt hatte.

Da nun Gangolf wieder in seine Heimat nach der Grafschaft Burgund kam, stieß er seinen Stab in sei nem Hof in den eignen Grund und Boden, da sprang alsbald ein heller, wasserreicher Quell, und jener Brunnen, den Gangolf im welschen Lande gekauft, versiegte auf immerdar.

Diese burgundische Sage würde nicht unter den deutschen Sagen dieses Buches stehen, wenn sich nicht von ihr ein auffallender Widerhall, sogar bis auf den Namen, im östlichen Frankenlande fände.

Am Felsenberge Milseburg im Rhöngebirge springt der von allem Volke wertgehaltene Gangolfsbrunnen. Da war ein Heiliger, Gangolf geheißen, der liebte diesen Berggipfel wegen seiner Einsamkeit und kam hinab nach Fulda, die uralte Bischofstadt, und fand bei einem Bürger einen klaren Brunnen, kaufte den dem Bürger ab, und derselbe meinte wunders, wie er den frommen Mann überlistet; denn, dachte er, der Brunnen mag immerhin sein eigen sein, mein bleibt doch der Platz, wo er quillt. Aber St. Gangolf ließ sich einen kleinen hölzernen Brunnenkasten machen, füllte den mit Wasser aus dem Brunnen, trug ihn eigenhändig auf die Milseburg, stellte dort den Kasten hin und durchstieß mit seinem Stabe den Boden. Siehe, da quoll das Wasser fort und fort von unten herauf in den Kasten, daß dieser überfloß, der Brunnen des Bürgers drunten in Fulda aber versiegte. Der Gangolfsbrunnen aber quillt noch unversiegbar fort bis auf den heutigen Tag, sein Wasser, wohl verstopft, soll sich jahrelang frisch erhalten, auch die sondere Tugend haben, für Frauen ein Kindleinsbrunnen werden zu können.

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