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Ludwig Bechstein: Märchen
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Das Hellerlein

Ein fremder Wandergast trat in ein Bauernhaus und fand allda die Familie, den Vater mit Frau und Kindern, in trüber Stimmung und in Trauerkleidern, denn ihnen war vor wenigen Wochen ein liebes und schönes Kind, ein Mädchen, gestorben. Die Leute ließen den Fremden, der ihnen jedoch verwandt war, an ihrem Mittagsmahle Anteil nehmen. Man setzte sich nach gesprochenem Gebete zu Tische, da schlug es zwölf Uhr. Und mit dem letzten Schlage der Uhr ging ganz leise die Stubentüre auf, und es trat ein bleiches Kind herein in die Stube, grüßte niemand, sah sich nicht um, sprach kein Wort, sondern ging schwebenden Ganges in die Kammer. Niemand sprach ein Wort, und auch der Fremde fragte nicht, aber es überlief ihn ein Schauer.

Geschäfte hielten den Verwandten noch einen und den andern Tag im Orte und bei den Leuten, die ihn aufgenommen, fest, sonst wäre er lieber gegangen, denn am zweiten Tage zeigte sich dieselbe Erscheinung; das bleiche Kind kam zur Stubentüre herein und ging schweigend in die Kammer - ohne daß die Leute es nur zu gewahren schienen. Dasselbe geschah am dritten Tage, da hielt der Fremde nicht länger an sich, sondern fragte: "Ei, saget doch, was ist das für ein Kind, das jeden Mittag Glock zwölf so still durch die Stube und in die Kammer geht?"

"Ich weiß von keinem solchen Kinde, ich sah noch keins", antwortete der Vater, die Mutter aber begann zu weinen.

Jetzt ging der Fremde zu der Kammertüre, öffnete sie ein wenig und blickte in die Kammer. Da gewahrte er das Kind. Es saß an der Erde und grub mit den Fingern in einer Ritze zwischen zwei Dielen gar emsiglich und wühlte und seufzete leise: "Ach, das Hellerlein! Ach, das Hellerlein!" als aber die Kammertüre ein wenig knarrte, fuhr das Kind erschrocken zusammen und verschwand.

Nun sagte der Gast den Leuten an, was er gesehen, und beschrieb des Kindes Gestalt, da rief die Mutter schluchzend aus: "Ach Gott, ach Gott! Das war unser Kind, das wir vor vier Wochen begraben haben! Warum nur hat es keine Ruhe im Grabe?" Nun gab der Gast den Rat, die Diele aufzubrechen, und als das geschah, so fand sich darunter ein armseliges Hellerlein, das hatte das Kind in der Kirche in den Klingelbeutel legen sollen, hatte es aber behalten, bis es noch eines zweiten habhaft würde, dann hatte es sich wollen Pfennigsemmel kaufen. Zu Hause aber hatte das Kind das Hellerlein fallen lassen, und es war zwischen den Dielen in die Ritze gefallen. Deshalb hatte das Kind keine Ruhe im Grabe. Am Tage darauf warf des Kindes Mutter das Hellerlein in den Klingelbeutel, und von nun an kam das Kind nicht wieder.

Das Kätzchen und die Stricknadeln

ES WAR einmal eine arme Frau, die in den Wald ging, um Holz zu lesen. Als sie mit ihrer Bürde auf dem Rückwege war, sah sie ein krankes Kätzchen hinter einem Zaun liegen, das kläglich schrie. Die arme Frau nahm es mitleidig in ihre Schürze und trug es nach Hause zu. Auf dem Wege kamen ihre beiden Kinder ihr entgegen, und als sie sahen, daß die Mutter etwas trug, fragten sie: "Mutter, was trägst du?" Und wollten gleich das Kätzchen haben; aber die mitleidige Frau gab den Kindern das Kätzchen nicht, aus Sorge, sie möchten es quälen, sondern sie legte es zu Hause auf alte weiche Kleider und gab ihm Milch zu trinken. Als das Kätzchen sich gelabt hatte und wieder gesund war, war es mit einem Male fort und verschwunden.

Nach einiger Zeit ging die arme Frau wieder in den Wald, und als sie mit ihrer Bürde Holz auf dem Rückwege wieder an die Stelle kam, wo das kranke Kätzchen gelegen hatte, da stand eine ganz vornehme Dame dort, winkte die arme Frau zu sich und warf ihr fünf Stricknadeln in die Schürze. Die Frau wußte nicht recht, was sie denken sollte, und dünkte diese absonderliche Gabe ihr gar zu gering; doch nahm sie die fünf Stricknadeln des Abends auf den Tisch. Aber als die Frau des andern Morgens ihr Lager verließ, da lag ein Paar neue, fertig gestrickte Strümpfe auf dem Tisch. Das wunderte die arme Frau über alle Maßen, und am nächsten Abend legte sie die Nadeln wieder auf den Tisch, und am Morgen darauf lagen neue Strümpfe da. jetzt merkte sie, daß zum Lohn ihres Mitleids mit dem kranken Kätzchen ihr diese fleißigen Nadeln beschert waren, und ließ dieselben nun jede Nacht stricken, bis sie und die Kinder genug hatten. Dann verkaufte sie auch Strümpfe und hatte genug, bis an ihr seliges Ende.

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Ludwig Bechstein Märchen, Literatur  

Bechstein, Ludwig. Sämtliche Märchen. Düsseldorf: Patmos/Albatross Verlag, 1999.

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