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Deutsches Sagenbuch
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Vorbehalten    Inhalt     

  1. Siegenheim
  2. Jettenbühel und Königsstuhl
  3. St- Katharinens Handschuh
  4. Des Rodensteiners Auszug
  5. Eginhart und Emma
  6. Die Windecker
  7. Thassilo in Lorsch
  8. Der Heerwisch
  9. Die Wiesenjungfrau und das Niesen
  10. Das versunkene Kloster

50. Siegenheim

Nahe der Stadt Mannheim und an der Straße von da nach Heidelberg liegt das Dorf Seckenheim, früher Siegenheim, so genannt von einem großen Siege, den Pfalzgraf Friedrich I., Kurfürst, genannt der Sieghafte, im Jahr des Herrn 1462 in Siegenheims Gefild erfochten. Damals ward ein steinern Kreuz auf der Walstatt erhöhet, mit einer Gedenkschrift, welche Kurfürst Friedrichs Sieg gegen den Bischof Georg zu Metz, gegen den Markgrafen Karl von Baden und gegen Graf Ulrich von Württemberg erfocht, da gewann der junge mutige Sieger alle seine Gegner, den Markgrafen Karl von Baden, den Herzog Ulrich von Württemberg, den Bischof Georg von Metz und nicht minder als zweihundertundvierzig Grafen und Herren nebst noch einer großen Schar reisigen Volkes zu Gefangenen, ohne das Volk, welches erschlagen ward und die blutige Walstatt deckte. Da konnte man wohl vom Siege reden. Alle Gefangenen ließ der Pfalzgraf gen Heidelberg führen und mit den Fahnen, die er den Feinden abgenommen, die Heilige-Geistkirche daselbst ausschmücken. Die gefangenen Fürsten wurden indes standesgemäß behandelt und ehrlich gehalten, und des Abends rüstete man ihnen eine stattliche Mahlzeit, da gab es Wild und Fisch und Beiessen und Wein im Überfluß, und nichts mangelte, bis auf eines. Und der Kurfürst trat zu den Gefangenen und munterte sie auf, doch zuzulangen und wacker zu essen, es werde ihnen doch schmecken nach so heißem Tage. Aber sie aßen nicht, und einer sprach: Gnädigster Herr Kurfürst: es mangelt uns an Brot. – Ha so! gegenredete der Kurfürst, das tut mir leid, da ergehet es euch gerade wie meinen Untertanen, denen ihr und euer Volk alle Brotfrucht geraubt und verbrannt habt und nicht einmal der Früchte auf dem Felde verschont. Wo soll dann Brot herkommen?

Mit großen Summen mußten die Gefangenen sich lösen und dachten all ihr Lebetag an den Tag bei Siegenheim und an das Gastmahl zu Heidelberg.

51. Jettenbühel und Königsstuhl

Nahe bei Heidelberg liegt ein Hügel, heißt der Jettenbühel, ist ein Teil vom Geißberg, nicht weit vom Königsstuhl, der sich hoch über Stadt und Tal erhebt. Man soll vom Gipfel dieses Berges, des Königsstuhl, den ganzen Rheinstrom abwärts bis nach Köln sehen können. Auf dem Königsstuhl habe schon vor Christi Geburt ein deutscher König regiert, und seine Burg habe Esterburg geheißen. Auf dem Jettenbühel aber habe das alte Heidelberger Schloß gestanden. In einer uralten Kapelle wohnte ein altes Weib, Jetta geheißen, und war eine Wahrsagerin, die sich vor wenig Menschen sehen ließ. Denen, welche kamen, ihre Zukunft von ihr zu erfahren, erteilte sie die Antwort aus dem offenen Fenster. Sie verkündigte, ihr Hügel werde dereinst von königlichen Männern, deren Namen sie singend nannte, bewohnt werden, und drunten das Tal werde von tätigem Volke wimmeln. Eines Tages stieg Jetta zum Fuße des Geißberges hinab, nach Schlierbach zu, wo ein Brunnen quoll, den sie gern besuchte, da lag eine Wölfin am Brunnen, die säugte Junge, zerriß und fraß die Jetta. Der Brunnen heißt noch bis heute der Wolfsbrunnen. Das Schloß auf dem Jettenbühel, die alte Pfalz, wurde am Tage St. Marci 1536 durch einen Blitzstrahl entzündet, wobei ein Pulverfaß in Brand geriet und einen Teil des Schlosses in die Luft sprengte. Kurfürst Friedrich I. von der Pfalz erbaute, da er in des Kaisers Acht gefallen war, einen starken und festen Turm und nannte den Turm Trutz-Kaiser.

Gegenüber dem Kaiserstuhl liegt jenseit des Neckar ein Berg, der heißt Allerheiligen- oder Heiligenberg, darinnen sind viele Höhlengänge und unterirdische Klüfte. Schon zu Römerzeiten soll auf dem Berge ein Tempel gestanden haben, ein Pantheon der Heiden, und die unterirdischen Gänge sollen einem Orakel gedient haben. Sie werden noch die Heidenlöcher genannt und von Erdzwergen bewohnt. Von dem Heidentempel aber hat der Heiligenberg keinesweges seinen Namen, sondern von Kirchen und Klöstern, die man in späterer Zeit dahinauf erbaute. Denn als die Christenreligion in diese Gegenden drang, da schenkte der deutsche König Ludwig III. (regierte 877-882) dem nachbarlichen Kloster Lorsch den Berg zum Eigentum, da wurde dem heiligen Michael zu Ehren eine Kirche hinaufgebaut, allein sie ging wieder ein, zwei Benediktinerklöster, eins nach dem andern, und gingen wieder ein, eine Kirche dem heiligen Stephan, ging ein, und noch eine Kirche dem heiligen Laurentius, und ging wieder ein. Es war, als ob die alten Heidengötter auf ihrem Berge unsichtbaren gewaltigen Kampf führten gegen das Christentum und es auf ihrem Sitz nicht duldeten, und jetzt sind die heiligen Stätten wüst und öde, und nur die Heidenlöcher sind noch vorhanden.

52. St. Katharinen's Handschuh

Gar eine schöne Schildsage hatten die edlen Herren von Handschuchsheim, deren Letzter im Jahre 1600 des Todes verblich, indem ihn Friedrich von Hirschhorn zu Heidelberg auf offnem Markt zur Nachtzeit auf den Tod verwundet hatte, und mit derem ersten sich das Folgende soll begeben haben. Er war ein frommer junger Ritter, der ging fleißig zur Kirche, und es geschah, daß er im Gebet vor dem Altare der heiligen Jungfrau und Märtyrerin Katharina einstmals entschlummerte. Da sah er drei überirdisch schöne Jungfrauen vor sich stehen, doch die mittelste war die schönste von den dreien, die sprach: wir kommen, dich anzuschauen, und deine Augen sind geschlossen; siehe uns an, und willst du dir ein Gemahl erkiesen, so wähle eine von uns dreien. Da sah der junge Rittersmann an der Palme und am Zackenrad, welches Flammen umweberten, daß St. Katharina selbst es war, die zu ihm gesprochen, und gelobte sich ihr mit allen Freuden. Sie aber setzte ihm einen Rosenkranz auf das Haupt, deß Rosen dufteten/ wie Blüthen des himmlischen Paradieses, und verschwand. Der Ritter, als er von seinem Traumgesicht erwachte, fand wirklich den Rosenkranz, und bewahrte ihn heilig, und fand, daß dessen Rosen nicht welkten. Nun drangen aber seine Verwnaden in ihn, daß er sich vermähle, hatten ihm auch schon eine sehr tugendsame adelige Jungfrau auserkoren, und er konnte sich der Heirath nicht entschlagen, führ aber doch fort, seiner himmlischen Verlobten in Andacht zu dienen. Seine Hausfrau nahm indeß bald wahr, daß der junge Gemahl sie nicht selten verließ, absonderlich des Morgens, wo er nach der Kirche ging, und argwöhnte Schlimmes, fragte auch ihre Kammermagd, wohin ihr Herr wohl immer gehe. Diese nährte nur den Verdacht der Frau, indem sie sprach, es dünke ihr, daß er zu des Pfaffen Schwester schleiche. Da ward die Frau unsäglich betrübt und weinte sehr, und als ihr Gemahl sie fragte, warum sie weine, so sagte sie ihm ihren Verdacht und ihren Kummer an. – Du bist thöricht, antwortete ihr der Ritter: die ich so inniglich minne, ist des Pfaffen Schwester nicht, ist eine viel höhere und schönere – und wandte sich hinweg von seiner Frau. Dieser brach solche Antwort fast das Herz, zumal sie gesegneten Leibes sich befand, und in Unsinnigkeit der Eifersucht ergriff sie ein Messer und stach sich’s in den Hals.

Da der Ritter nach Hause kam vom Gebet und das Unheil sah, erschrak er, daß ihm das Herz kalt ward, und fiel in Ohnmacht, und als er wieder zu sich kam, raufte er sein Haar und klagte aller Schuld sich an und rief unter tausend Thränen seine Heilige um Schutz und Beistand. Da erschien ihm die heilige Katharine abermals sichtbarlich mit ihren beiden Jungfrauen, und sprach: auf dein Gebet und meine Fürbitte ist deine Frau wieder lebendig geworden, und hat ein Töchterlein geboren! – und neigte sich über ihn, und wischte mit ihrer Hand über seine thränenquillenden Augen, daß die Hand ganz davon überfeuchtet wurde, und siehe, da ward aus dem Thränennaß ein Handschuh, so weiß und zart, wie das Häutchen im Ei, und St. Katharina streifte ihn sanft ab, und entschwand mit ihren Begleiterinnen, und der Ritter fand den Handschuh in seiner Hand liegen. Indem so kam ein Bote, der ihn suchte und rief: Herr! dein Gemahl lebt und hat ein Töchterlein geboren. – Da ging der Ritter freudenvoll heim, umarmte und küßte Weib und Kind, und beide lobten Gott und die heilige Katharine. Die Frau ließ ein Kloster bauen, und der Ritter that eine Bußfahrt in das heilige Land, und als er zurückkam, ließ er jenen Rosenkranz und den Handschuh, den er auf seinen Helm gebunden mit sich geführt, und der in allen Gefahren ihn wunderbarlich geschirmt hatte, in der Kirche zum Gedächtniß aufbewahren, nahm auch den Handschuh auf in sein Wappenschild, und nannte sein Geschlecht und seinen Sitz Handschuchsheim.

53. Des Rodensteiners Auszug

Im Odenwalde oder nahe dabei stehen zwei Trümmerburgen, die heißen der Rodenstein und der Schnellert, zwei Stunden voneinander entfernt. Die Herren von Rodenstein waren ein mächtiges Rittergeschlecht. Einer derselben war ein gewaltiger Kriegs- und Jagdfreund, Kampf und Jagd war sein Vergnügen, bis er auf einem Turnier zu Heidelberg auch die Minne kennenlernte und ein schönes Weib gewann. Doch lange hielt er es nicht aus im friedsamen Minneleben auf seiner Burg, eine nachbarliche Fehde lockte ihn zu blutiger Teilnahme. Vergebens und ahnungsvoll warnte sein Weib, bat und flehte, sie nicht zu verlassen, da sie in Hoffnung und ihrer schweren Stunde nahe war. Er zog von dannen, achtete ihres Flehens nicht – sie aber war so sehr erschüttert, daß ihre Wehen zu früh kamen – sie genas eines toten Sohnes und – starb. Der Ritter war, dem Feinde näher zu sein, auf seine Burg Schnellert gezogen – dort erschien ihm im Nachtgraun der Geist seines Weibes und sprach eine Verwünschung gegen ihn aus. Rodenstein! sprach sie, du hast nicht meiner, nicht deiner geschont, der Krieg ging dir über die Liebe, so sei fortan ein Bote des Krieges fort und fort bis an den Jünsten Tag! –

Bald darauf begann der Kampf. Der Rodensteiner fiel und ward auf Burg Schnellert begraben. Ruhelos muß von Zeit zu Zeit sein Geist ausziehen und dem Lande ein Unheilsbote werden. Wenn ein Krieg auszubrechen droht, erhebt er sich schon ein halbes Jahr zuvor, begleitet von Troß und Hausgesinde, mit lautem Jagdlärm und Pferdegewieher und Hörner- und Trompetenblasen. Das haben viele Hunderte gehört, man kennt sogar im Dorfe Oberkainsbach einen Bauernhof, durch den er hindurchbraust mit seinem Zuge, dann durch Brensbach und Fränkisch-Krumbach und endlich hinauf zum Rodenstein zieht. Dort weilt das Geisterheer bis zum nahenden Frieden, dann zieht es, doch minder lärmend, nach dem Schnellert zurück. Im vorigen Jahrhundert sind im Gräflich-Erbachischen Amte zu Reichelsheim gar viele Personen, die den Nachtspuk mit eigenen Ohren gehört hatten, amtlich verhört worden und haben ihre Aussagen zu Protokoll geben müssen.

Viele sagen zwar, es sei des Lindenschmieds Geist, der so ruhelos ziehe, und von dem am Rhein alte Lieder gehen, aber der Lindenschmied war ein Schnapphahn, den Kaspar von Freundsberg gefangennahm, und lange vor seinem Leben war der Rodensteiner zum Auszug und Kriegsherold bis zum Jüngsten Tage verwünscht worden.

54. Eginhart und Emma

Kaiser Karl der Große hatte einen jungen Kapellan, Eginhart geheißen, der ihm auch als Geheimschreiber treulich diente, und von welchem jenes großen und mächtigen Kaisers Leben beschrieben worden ist. Dieser liebte des Kaisers Tochter Imma oder Emma, und wurde von ihr heftig wieder geliebt, doch fürchteten sich beide, dem mächtigen Herrscher Karl ihre Leidenschaft zu entdecken, weil Imma bereits dem Könige von Byzanz verlobt war. Da geschah es, daß Eginhart in einer Nacht zu Imma kam, und mit ihr von ihrer Liebe redete, bis der Morgen fast zu grauen begann. Aber während die Liebenden heimlich beisammen waren, fiel ein starker Schnee, und als Eginhart von seiner Geliebten hinweggehen wollte, da er über den Hof der Kaiserpfalz zu Ingelheim, wo sich dieses zutrug, wandeln mußte, erschraken beide sehr, denn sein Fußtritt von ihrem Gemach aus mußte ihn ohnfehlbar verrathen. Da ersann Imma eine List, sie gürtete sich und trug den Geliebten auf ihrem Rücken durch den Schnee über den Burghof bis zur Stelle, wo er sicher war, und kehrte dann in ihre eigenen Fußstapfen vorsichtig tretend, wieder zurück. Alles war still und alles schlief, nur der große Kaiser nicht. Dieser wachte und sah aus seinem Gemach hinab in den Schloßhof, und erkannte mit Schmerz die eigene Tochter – doch er schwieg. Der junge Kanzler aber gelobte sich nach der ertragenen Angst, des Kaisers Hof zu verlassen, kniete nieder vor seinem Herrn und bat ihn zu entlassen. Da der Kaiser nach der Ursache solcher Bitte fragte, so wandte Eginhart Mißmuth vor, sein Dienst werde ihm nicht gehörig vergolten, und was er sonst für Ausreden brauchte. Der Kaiser versprach dem Jüngling baldigen Bescheid, setzte aber ein Gericht an, zu dem er seine weisesten Räthe und Richter berief, und trug ihnen vor, was sich begeben habe und was er mit Augen gesehen; heischte nun, da er in eigner Sache nicht Richter sein wollte, ihren Rath und ihr Urtheil. Da stimmten die Räthe und Richter fast allzumal für Milde und Verzeihen, und der große König, ob er auch im Herzen zürnte, mußte ihnen zuletzt beistimmen. Darauf ließ er seinen Schreiber vorfordern und sprach zu ihm: schon lange hätte ich deine Dienste besser vergolten, hättest du mir früher dein Mißvergnügen entdeckt, nun will ich dir meine Tochter Imma zur ehelichen Frau geben, welche dich hochgegürtet so williglich durch den Schnee getragen hat. Und sandte nach der Tochter, und Imma kam mit hohem Erröthen, und ward ihrem Herzgeliebten alsobald angetraut. Der Kaiser begabte seine Kinder reich mit Ortschaften, Waldungen und Feldern, und hielt Eginhart gar hoch in seinem Herzen. Als aber der große Kaiser verstorben war, da sehnte Eginhart sich vom Hofe hinweg mit seiner lieben Imma in beschauliche Stille, und König Ludwig der Fromme, Karols Sohn, begabte ihn mit zwei königlichen Villen im Odinwald, die hießen Michlinstadt und Mühlenheim. Nach einer Reihe glücklich verlebter Jahre wandte sich das Herz der Verbundenen mehr und mehr dem Himmel zu. Michlinstadt schenkten sie dem berühmten Kloster Lorsch, von dem überkamen es die Schenke von Erbach, die später Reichsgrafen wurden. Beide lebten fortan geistlich, nur noch als Bruder und Schwester verbunden; Eginhart ließ sich die Priesterweihen ertheilen und erbaute eine Kirche mit Klosterzellen zu Obermühlheim, ließ dorthin heilige Leiber aus Rom kommen, und als seine Imma verstorben war, ließ er sie in seinem Kloster beisetzen, dessen erster Abt er wurde. Selig sei die Statt, wo du ruhest, sprach er an der Asche der Treugeliebten, und wo wir in Liebe Selige gewesen – und fortan wurde der Ort Seligenstadt genannt.

Andere sagen, Karl der Große habe die Liebenden von seinen Augen verbannt und verstoßen, und sie haben lange dort um Seligenstadt in einer Waldeinöde beisammen gewohnt, bis der Kaiser auf seiner Jagd sie einst unvermuthet wiedergefunden, und aus Freude jene Stätte selbst Seligenstadt genannt habe. Da auch Abt Eginhart verstorben war, wurden seine Gebeine neben denen seiner Imma beigesetzt und ihnen dann ein kostbarer Sarkophag, darinnen sie ruhten, errichtet, und da nun die erlauchten Grafen von Erbach zu Erbach ihren Stamm von diesem edlen Paare ableiten, so ist durch Geschenk von hoher Fürstenhand ihnen dieser alte Sarkophag verehrt worden, und wird als das kostbarste Alterthum zu Erbach noch bewahrt. Nicht minder aber ward zu Seligenstadt ein herrlicher andrer Marmorsarkophag mit den Gebeinen der Gründer der dortigen Kirche in derselben aufgestellt, und so ist es gekommen, daß Eginhart's und Emmas's Sarg an zwei verschiedenen Orten gezeigt wird, und doch jeder von beiden der wahrhaftige ist.

55. Die Windecker

Über der Stadt Weinheim an der Bergstraße erhebt sich die Burgtrümmer Windeck, von welcher manche Sagen gehen. Einst jagte ein freisamer Rittersmann, als Windeck schon verfallen war, einen flüchtigen Hirsch, der flüchtete sich geradezu mitten in die Ruinen der alten Burg und entschwand seinen Augen, der Ritter aber sah sich einsam in stiller Öde. Der Tag war heiß, und ihn dürstete sehr, er gedachte wohl der Sage, daß in den verschütteten Kellern der Windeck noch manch ein gutes Trünklein liege. Siehe, da stand vor ihm ein Jungfräulein im schloßenweißen Gewande, die hielt ein köstlich Trinkhorn, das bis zum Rande gefüllt war, und bot es ihm zum Tranke. Der Ritter trank und konnte kein Auge mehr von der schönen Jungfrau wenden; sie aber nahm ihr Trinkhorn zurück und verschwand. Seitdem blieb der Ritter fort und fort an die Trümmer von Windeck gebannt, immer hoffend, daß die Herrliche, die ihn bezaubert mit ihren Augen, wie mit dem Tranke, ihm einmal wieder erscheine; niemand aber kann sagen, ob der Ritter sie noch einmal gesehen, denn auch als er endlich verstorben war, wandelte sein Geist noch ruhelos durch die Trümmer.

Auch der Geist eines der letzten Windeckers soll zuzeiten auf dem Turme der alten Windeck erblickt werden, die Arme sehnend hinüberstreckend in der Richtung nach Straßburg. Eine Straßburgerin war sein Weib, Heimatliebe zog sie aus seinen Armen, im hohen Münster dort betete sie, im Münster starb sie, im Münster ist ihr Grab. Sehnend nach ihr brach im Tode des Gatten Herz.

Anders als dieses Ritters Herz beschaffen waren die Herzen der allerletzten Sprossen des edlen Geschlechtes derer von Windeck. Unsaglicher Geiz war ihr alleiniges Glück. Einsam hausten und als Junggesellen die Brüder in der verfallenen Feste; diese baulich zu erhalten, hätte Geld gekostet, und solches hatten die Brüder viel zu lieb, um es hinauszustoßen aus ihrem Kasten in die feindliche böse Welt. Aller Dienerschaft taten sie sich ab, denn Diener kosten etwas, nämlich Kost und nebenbei doch noch Geld. Selbst Hund und Katze fraßen den Brüdern endlich doch gar zu viel, und sie fanden daß es ein kostspieliges Ding sei, vierbeiniges Vieh zu halten, zumal wenn es nicht zum wenigsten Milch oder Wolle gebe. Dennoch hielten sie beide gemeinschaftlich noch ein Tierchen, und das war eine Meise – die brauchte nicht viel – sie gaben ihr täglich eine Nuß. Da hatte einstmals einer der Brüder eine schlaflose Nacht, und in schlaflosen Nächten pflegen die Geizigen zu rechnen. Und da rechnete der Herr von Windeck und brachte heraus, daß das Jahr 365 Tage, auch manchesmal 366 Tage habe, und daß ebenso viele Nüsse sechs Schock und einige darüber machten, und daß ein Schock Nüsse, wenn sie billig, wie an der Bergstraße – anderwärts kosten sie mehr – drei Kreuzer kosteten, und daß dieses alljährlich die Summe von achtzehn Kreuzern und mehr betrage, sechsmal so viel, als eine Meise wert sei. – Am andern Tage teilte der Windecker seinem Bruder die angestellte Rechnung mit, worüber dieser erschrak und eine Zeitlang ganz tiefsinnend wurde. Wenn wir bedenken, lieber Bruder, sprach er endlich, daß bei sechs Schock Nüssen auch viele taube sind, so können wir sogar sieben Schock rechnen, ohne die Mühewaltung, welche das Füttern, Wassergeben und Bauerreinigen eines solchen unnützen Fressers verursacht. – Ja, lieber Bruder, sprach der erste wieder mit einem Seufzer, wir haben uns da von unsrer Gutherzigkeit gegen dieses unvernünftige Geschöpf, gegen unsre Meise, zu einer unverantwortlichen Verschwendung hinreißen lassen, denn bedenke, wie viele Jahre wir nun schon das nutzlose Geschöpf füttern! Es ist ganz unerhört! – Darauf wurden die Brüder alsbald einig, dem unnützen, kostspieligen Kostgänger den Bauer zu öffnen und ihn hinfliegen zu lassen, wohin er wollte. Aber der Schmerz über ihre zu spät von ihnen erkannte Verschwendung nagte den Brüdern am Herzen, sie konnten sich jene nicht vergeben, diesen nicht überwinden, und am folgenden Tage hatte der Gram über ihre Verschwendung ihnen zu gleicher Zeit das Herz gebrochen.

56. Thassilo in Lorsch

Es geschah, daß Kaiser Karl der Große zu streiten kam mit Thassilo, dem mannlichen Bayerherzog, der sein ganz naher Verwandter war, und da er großes Unrecht durch Anreizung der Widersacher Karls verübt, so übte Karl eine erschreckliche Rache und ließ ihm eine entsetzliche Strafe zuteil werden. Karl ließ den Agilolfinger Thassilo blenden, welches dadurch geschah, daß jener gezwungen ward, auf einen seinen Augen nahegebrachten, im Feuer glühend gemachten Schild zu sehen, bis ihm das Licht der Augen dunkel ward und gar verging. Sein langes Haar ward vor dem Thron ihm abgeschnitten und er zum Mönch geschoren, dann sollte er nach des Kaisers Gebot eingetan werden als Mönch in ein Kloster, damit er büße und bete all sein Leben lang. Darauf nach langen Jahren begab es sich, daß einstmals Kaiser Karl gen Lauresheim, das ist Lorsch, das Kloster, kam, und hatte den Herzog Thassilo längst vergessen, und sich gedrungen fühlte, zur Nachtzeit im Münster dort zu weilen und zu beten, da nahm er mit Staunen wahr, wie ein Mönch durch den Kreuzgang unsichern Trittes wandelte, welcher blind war, ihm zur Seite aber ein lichtumflossener Bote Gottes ging, der ihn leitete. Des Greises Züge kamen dem Kaiser bekannt vor, doch konnte er sich dessen Namens nicht entsinnen. Und der Mönch ward von Altar zu Altar geleitet und betete an jedem und schritt dann mit seinem überirdischen Führer still zurück. Darauf hat der Kaiser am andern Morgen den Abt des Klosters Lorsch zu sich entboten und hat ihn gefragt, welchen Mönch er im Kloster habe, dem ein Engel diene. Der Abt erstaunte und wußte nichts zu sagen, folgte aber des Kaiser Gebot, in nächster Nacht mit ihm des Mönchs wieder zu harren. Da geschah es ganz so wie in der vorigen Nacht, daß der blinde Mönch wieder kam und der Engel ihn geleitete. Und der Kaiser, gefolgt von dem Abt, ging, als der Mönch gebetet hatte, dem Mönch und dessen Führer nach, und trafen den Mönch allein in seiner Zelle. Der Abt kannte den Mönch aber nur unter seinem Klosternamen und wußte nichts weiter von ihm. Nun sprach der Abt ihn an, zu sagen, was er vordem in dem weltlichen Leben gewesen, und nichts zu verhehlen und zu verschweigen, denn sein Herr und Kaiser sei es, der vor ihm stehe. Da sank der blinde Mönch zu des Kaisers Füßen nieder und sprach: O Herr! Viel habe ich gegen dich gesündigt, und meine Buße währet für und für. Thassilo war ich vordem geheißen. – Da hub ihn der Kaiser gnädiglich auf und sprach: Schwer hast du gebüßt, und härter, als mir lieb, all deine Schuld sei dir vergeben. Da küßte der blinde Greis des Kaisers Hand und sank zur Erde und verschied. Im Kloster Lorsch ruht sein Staub.

57. Der Heerwisch

Die Leute in der Gegend der Bergstraße und insonderheit um die Orte Lorsch und Hähnlein nannten und nennen die Irrwische Heerwische und haben einen Spottreim, daß sie sie anrufen, wenn sie, wie gewöhnlich nur geschieht, in der Adventszeit sich sehen lassen:

Heerwisch, ho ho!

Brennst wie Haberstroh!

Schlag mich blitzeblo!

Das ist aber schon mehr als einem übel bekommen. Da war vor länger als dreißig Jahren einmal ein junges Mädchen, das ging zur Abendzeit an einem Sumpf bei Hähnlein vorüber, da sah sie einen Irrwisch hüpfen und rief ihm keck und laut den Spottreim hinüber. Sogleich kam der Irrwisch über den Sumpf herübergeflattert, auf das Mädchen zu, dem ward angst – es eilte, was es eilen konnte, seinem Elternhause zu, der Heerwisch aber flugs hinterdrein, und hatte feurige Flügel, und schlug damit wie ein recht wilder großer Sumpfvogel auf das Mädchen los, und als sie, zum Tod geängstigt, das Haus erreichte und hineinschlüpfte, war der Heerwisch auch mit drin, machte die ganze Hausflur hell, trat ihr in die Stube nach und schlug mit seiner Flackerlohe alle Leute, die ihm in den Weg und Wurf kamen, dann fuhr er zum Schornstein hinauf und aus dem Schlot wie ein Feuerdrache und walzte über alle Dächer, daß sich männiglich entsetzte. Am andern Tage waren alle, und das Mädchen zumeist, "blitzeblo" von des Heerwisches Schlägen. Die Heer- und Irrwische und Feuermänner werden für Verstorbene gehalten, welche wegen ihrer Übeltaten im Leben die ewige Ruhe nicht finden, insonderheit sind es falsche Feldmesser, Grenzsteinverrücker und Bauern, die dem Nachbar die Furchen abpflügen, die in ganz Deutschland für solche gehalten werden, die als Feuermänner büßen müssen. Im deutschen Norden gelten die Irrwische für die Seelen ungetauft verstorbener Kinder. In Thüringen haben die Leute ein Sprüchwort, wenn einer recht hastig rennt: Du läufst ja wie ein feuriger Mann.

58. Die Wiesenjungfrau und das Niesen

Auf einer grünen Wiese bei Auerbach, eine Meile von Lorsch, hütete ein Hirtenbub seines Vaters Kühe, stand müßig und dachte an gar nichts. Da fühlte er auf einmal einen sanften Backenstreich auf seiner Wange von einer weichen Hand, und wie er erschrocken sich umdrehte, so stand eine wunderschöne Jungfrau vor ihm da, schloßschleierweiß, und tat den Mund auf, ihn anzureden. Aber der Bub tat vor Schreck einen Brüll, als wenn er am Spieße stäke, und rannte davon, nach Auerbach zu und hinein. Nach einiger Zeit hütete der Bube abermals auf jener Wiese und stand träumend in der heißen Mittagsstunde am Waldesrain. Da raschelte es am sonnigen Rain, als schlüpfe ein Eidechs ins Dorngebüsch, der Knabe blickte hin, da sah er eine kleine Schlange, die trug in ihrem Mund eine blaue Blume und sprach: Guter, erlöse mich! erlöse mich! Mit dieser Blume öffnest du droben im alten Schloß Auerbach die verfallenen Keller und die Fässer voll Gold, und alles ist dein! Nimm die Blume, nimm die Blume! – Aber dem Buben wurde es ganz unheimlich und graulich, er hatte all sein Lebetage noch keine Schlange sprechen hören – und lief von dannen, als wenn der wilde Jäger hinter ihm drein wäre. Als der Spätherbst kam, hütete derselbe Bube zufällig wieder an derselben Stelle, und da empfing er wieder einen sanften Backenstreich und sah im Umdrehen wieder die weiße Jungfrau, welche ihn flehend ansprach: Erlöse mich! erlöse mich! Ich will dich reich und glücklich machen. Du allein kannst es, nur du allein. Ich bin verwünscht, zu harren und zu wandeln, und kann nicht eher zur Seligkeit eingehen, bis aus einem Kirschkern, den ein Vöglein auf diese Wiese fallen läßt, ein Kirschbaum groß und stark gewachsen ist, der Baum abgehauen und aus ihm eine Wiege gemacht wird. Nur das erste Kind, das in solcher Wiege geschaukelt wird, kann dadurch mich erlösen, daß es mit der blauen Blume, die ich hier halte, hinauf zur Burg geht und dort die unterirdischen Schätze hebt. Du bist das Kind, das in solcher Wiege gewiegt worden. – Als der Bube diese Rede hörte, zitterte er, und es lief ihm eiskalt über den Nacken, denn er hatte kein Herz, und wenn der Mensch kein Herz hat, ist er ein Tropf. Und kreuzigte und segnete sich und schüttelte mit dem Kopfe. – Wehe mir! Wehe! rief da die Jungfrau. So muß ich wieder hundert Jahre harren und wandeln, wehe dir, daß du kein Herz hast, so sollst du auch keins finden! – Und tat einen lauten Schmerzensschrei und verschwand.

Der Bube aber ging von diesem Tage an still und bleich umher und hat nicht lange gelebt.

Eine ähnliche Sage von dem Kirschkern, Baum und Wiege, an die sich Hoffnung auf Erlösung knüpft, geht von den Trümmern der Burgruine Raueneck in Österreich. Dort bei Auerbach aber ist's auch sonst nicht geheuer. Über das Flüßchen, die Auerbach, geht ein Brückchen. Als einstens jemand darüberschritt, hörte er es im Wasser niesen, und zwar dreimal, und dreimal sprach er: Gott helf! Da stieg die Gestalt eines Knaben aus dem Wasser und rief: Gott danke dir, du hast mich erlöst! Darauf hab' ich dreißig Jahre gewartet. Ein anderer hatte oberhalb der Brücke auch dreimal niesen hören; zweimal hatte er Gott helf! gerufen, weil aber niemand einen Dank zurückrief, so schreit er beim dritten Male: Hole dich der Teufel! – Da hat es im Wasser einen Wall getan, als wenn sich jemand in demselben heftig umwälze, und darauf ist alles stille gewesen.

59. Das versunkene Kloster

Ohnweit des Fleckens Neuenkirchen im Odenwalde liegt ein stilles einsames Wiesental mit einem kleinen Weiher ohne Zufluß und ohne Abfluß. Dort hat vorzeiten ein Nonnenkloster gestanden, und darinnen war eine junge Novize, die hatte das Gelübde noch nicht abgelegt. Sie war zum Kloster gezwungen worden und liebte einen Ritter von einer der nahen Burgen, der oft zur Nachtzeit, wenn alles ruhte, heimlich in den Klostergarten kam und die Geliebte sah und sprach. Eines Abends kam ein müder greiser Pilger an die Klosterpforte und begehrte Einlaß und Obdach über Nacht, allein die Priorin und der ganze Konvent wiesen ihn ab. Nur die Novize bat, des alten Mannes Bitte doch zu gewähren, allein da sie noch nicht Nonne war, stand ihr nicht einmal zu, einen Rat zu geben, und die Pforte des Klösterleins blieb dem Pilger verschlossen. Da murmelte derselbe einen Fluch, schwang seinen Stab, schlug dreimal damit an die Pfortenmauer, und da versank das Kloster mit Kirche und Konventhaus lautlos in die Tiefe, und wo es gestanden, breitete eine stille Wasserfläche geheimnisvoll sich aus. Der Pilger aber schwand hinweg, an seine Stelle trat der liebende junge Ritter – und traute gar nicht seinen Sinnen, als er nichts mehr vom Kloster sah. Laut rief er den Namen der Geliebten durch die öde Stille, die ihn umschauerte, da scholl es aus der Tiefe herauf: Morgen zu dieser Stunde kehre wieder zu dieser Stätte! Einen roten Faden, der auf dem Wasser schwimmen wird, erfasse dann!

Der Ritter tat in der folgenden Nacht, wie ihm geboten war, er faßte den Faden und zog an ihm, und da stand sein liebes Lieb vor ihm und küßte ihn und sprach zu ihm: Unschuldig muß ich mit den andern büßen, doch ist mir vergönnt, dich zu dieser Nachtstunde zu sehen, nur darf ich nicht über ihren letzten Schlag verweilen. Der rote Faden, an dem du mich emporziehst, ist mein Lebensfaden, darum halte mich nicht über die Zeit. – Lange sahen sich so die Liebenden fast in jeder Nacht, bis sie einmal allzu lange Herz am Herzen ruhten – da hatte der Ritter sein Lieb zum letzten Male in seinen Armen gehabt. Als er in folgender Nacht wiederkam und den Faden faßte, da war er nicht mehr rot – er war durchschnitten – wohl aber war rot der ganze See, vom Blute der Geliebten gefärbt. Andere sagen, der Nonnen Mißgunst habe ihn durchschnitten. Der Liebende blickte traurig in den See und versenkte sich selbst hinab in die Tiefe. In Mondnächten rauschen die versunkenen Nonnen bisweilen herauf und tanzen als Nixen mit Skapulier und Stola lustigen Ringelreigen am grünen Ufer, und Irrlichter mischen sich in ihren Reigen.

Der Sagen von Jungfrauen, die aus Weihern emporsteigen und im Arm der Liebe oder der Freude des Tanzes die bestimmte Stunde vergessen, worauf von ihrem Blute die Seen und Weiher gerötet erblickt werden, gibt es in Deutschland wohl an die tausend.

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